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  • Jeannot Simmen “Malerei jenseits der Konturen”, 2006
Detail: Café Bistro Hauptstadt, 2006, Öl auf Leinwand, 130 x 170 cm
MedienNutzen
Was die Dorfgemeinschaft einst samt Kirche und Schenke, das ist heute die all­gegenwärtige Cyberwelt samt Blackberry und Netcommunities. Das von Marshall McLuhan prophezeite “Globale Dorf”, installierte sich schneller als erahnt, wurde allumfassend-westliche Realität. Vergangen ist das Rebellieren als “Kinder von Marx und Coca-Cola” (Jean-Luc Godards Film, 1965) mit RAF, the SDS und Frauenpower gegen Mummenschanz und Patriarchat. Heute culten die Kids sich durch virtuelle Realitäten mit Google-Hack und Open Source. Keiner hängt am Pott, alle am I-Pod. Nicht mehr Poona ist irdische Utopie, sondern die klonsüchtigen Raeliten/Elohimiten – siehe die bitterschnöde Abrechnung in Michel Houellebecq “Die Möglichkeit einer Insel”.
Der aktuelle Zugriff auf die Realität ist anders: Der Verlust haptischer Unmittelbarkeit wird wett­gemacht durch elektronische Apparate. Telematik heisst die zauberhafte Technik für Allgegenwart und ubiquitäre Präsenz. Die Ferne zur habituellen Realität verführt bei Römer + Römer zu libidinösen Vereinigungs-Performances. Die rechnergenerierten Bilder verweisen auf ihre Dpi-Ästhetik von Farbflächen ohne Konturen.
“Das, was dich verwundet, wird dich auch heilen”, gilt auch im Digital-Zeitalter. Nach einer mythischen Überlieferung wurde der Myserkönig Telephus durch den Speer des Achill verwundet. Die Wunde heilte nicht, er befragte das Orakel, das den oben zitierten Rat verkündete. Nach der Legende bat Telephus den Achill, er möge nochmals mit dem Speer in die Wunde stossen; worauf sich diese schloss. Die technischen Bildmedien mit endlosen Darstellungs-Varianten ‘verletzen’ Künstler in ihrer Existenz präzis wie ein Speerstich. Allein das Nutzen der bilderwerfenden Apparate ‘heilt die Wunde’ und schafft Neues. Die avancierten Künstler nutzen und unterlaufen listig die Rechner und schaffen daraus mehr als hochdotierte Teams von Graphic Designern und Kommunikations-Dienstleistern. Erstaunlich: Die neuen (nicht kontextualen, nicht programmkonformen) Bilder werden auch heute von autonomen Künstlern erfunden. Vergleichbar der Photographie, die vor etwa 100 Jahren die realistisch-akuraten Maler ‘arbeitslos’ machte. Photographie entlastete aber gleichzeitig die Malerei vor der realitätsgenauen Wiedergabe. Eine radikal neue Malerei wurde möglich: abstrakte und gegenstandslose Werke. Das Photohandwerk hat das Nachsehen, war gut für die Wiedergabe der sichtbaren Realität.
Alte und neuere Medien
Alles Klassische ist Vereinbarung über ein bestimmtes Set an Zeichen. Klassizismus erscheint als Kanon von Reduktion, Essenz und synthetischen Regeln. Die Formen bilden ein klassisch-einfaches Arsenal an ästhetischen Vereinbarungen. -Dagegen setzt das Neue und Opponierende auf offene Strukturen, erscheint als amorphe Assemblage. Der neue Impuls von schwerer Gravität stösst um, was bereits wankt, was angeschlagen. Digitale Medien samt ihren medial produzierten und medial­generierten Bilder greifen den überkommenen Kanon an. Das bedeutet die Rote Karte für handwerklich mit Leinwand, Farbe und Pinsel gestaltete Kunst.
Doch ein Gegensetzen hilft nur vordergründig, ist allzu lapidar.Wer den Zustand als Frontenkrieg deutet, befriedigt Lacher und Zyniker. Digitale Bilder sind wohl das Leitmedium aktueller Bilder­produktion dank Simplizität und Schnelligkeit, nicht durch Phantasie oder Innovation. Damit aufge­wachsen, verweigert sich kein vernünftiger Künstler und lebt paradiesisch in apparatefreien Zonen. Bildermaschinen: Digitalkamera, Scanner, Internet, Beamer etc. sind mögliche Ausgangs-Medium der künstlerischen Bilderproduktion, sie ersetzen Skizze und Entwurf von Hand. Interessant werden erst hyperartige Überlagerungen von Handwerk, manufakturellen und apparativen Medien; interessante Adaptionen erarbeiten Römer + Römer.
Flächen als Gesichter
Stets verfolgt man als User verwundert einen Bildaufbau am Computer. Die rechnergenerierten Bilder entstehen stufenweise wie bei einem künstlerischen Prozess. Jedes Datenbündel ‘wirft’ mit Zauberhand neue Schichten auf den Monitor. Flächenartig erscheinen schablo­nenartige Farbschichten, als ob im Rechner ein automatisiert-flinker Siebdrucker agierte. Diese Flächen/Umrisse kennen noch keine eindeutige Zuordnung, bleiben amorph und vieldeutig. Das Fehlen der Kontur, der eindeutigen Zuordnung belässt vieles im Übergreifenden, Alles ist mit Allem relationiert. Die Umrissformen zeigen realistisch werdendere Figuren und Objekte – eine apparative Ephiphanie. Römer + Römer arbeiten mit rechnergenierierten Bildern. Als Vorlagen dienen die selbstgemachten Aufnahmen, der durch Interessen fokussierte Blick auf ihre Welt. Ansatz ist die fremd erscheinende, un­mittelbare Lebenswelt. Die ursprüngliche Aufnahme erfährt im Rechner die ersten Metamorphosen; gestoppt wird aber der Perfektionsprozess der Vollendung in Glamour-Realität. Römer + Römer ver­weigern sich der Hochglanz-Ästhetik, der Vollendung in blutleerer, hochauflösender Wiedergabe. Denn das fertige Werk verbleibt auch in der Photographie “die Totenmaske der Konzeption”, so Walter Benjamin in seinen Thesen “Die Technik des Schriftstellers“.
Flächen statt Linien
Römer + Römer belassen die Flächen im farblich Vieldeutigen. Die Flächen ‘laufen’ gleichfarbig über mehrere Objekte. Sie unifizieren, aber konturieren nicht. Sie bestimmen nicht die Gegenstände in ihrer abgrenzenden Vereinzelung. Das Fehlen von Konturen verweist auf ein jenseits der Kulturen. Diese pixelig-rauhe Ansicht ist ästhetische Provokation, entsteht im Erstellungsprozesss, vergleichbar dem Anfang der Genesis, wo alles noch ungeschieden war, vor dem ersten Tag (Gen 1-2). Mit dem Computer werden die eigenen Aufnahmen bearbeitet. Daraus entsteht ein digitaler Bildent­wurf. Dieser dient als Ausgangspunkt für eine durchaus altmeisterliche Ölmalerei auf Leinwand der beiden “Meisterschüler” der Düsseldorfer Akademie. Diese Umsetzung erfolgt nicht ‘mechanisch’ wie beim Rechner, vielmehr werden die Übergänge markiert oder Flächen farblich vereinigt. Hier liegt die künstlerische Opposition zur hochauflösenden Sachphotographie der Becher-Klasse an der Düsseldorfer Akademie.
Flecken statt Linien
Die Unterscheidung von Hochklassik und Barock gewann um 1915 der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin durch die visuelle Unterscheidung von linearer und malerischer Bildanlage: “… eines Sehens in Flecken, statt in Linien, etwas, was wir malerisch nennen und was ein unterscheidendes Merkmal des 17. Jahrunderts gegenüber dem 16. Jahrhundert ist”. Diese Entwicklung der Kunst vom Linearen zum Malerischen entwertete allmählich die Linie als Blickbahn und Führerin des Auges … Allgemeiner gesagt: die Begreifung der Körper nach ihrem tastbaren Charakter … Das plastische und kontuierende Sehen isoliert die Dinge, für das malerisch sehende Auge schliessen sie sich zusammen”. Durch die Entwertung der Linie als Grenzsetzung öffnen sich malerische Möglichkeiten: Tiefe statt Fläche, eine offene statt eine geschlossene Form, Vielheit statt Einheit. Digitalphotographie und Malerei ergeben bei Römer & Römer den Aussstieg aus der konturierenden Wiedergabe zu einer malerischen Kunst. Eine vergleichbare Position lässt sich zu den Werken von Franz Gertsch bilden. Was bei Franz Gertsch die photographische Rasterung von Diapositiven, das bilden bei Römer + Römer die digitalisierten Pixel-Flächen-Flecken; der malerische Triumph über das parzellierende Fotoraster.
Vereinigungs-Performances – Römer + Römer ab 2003
Jedwede Utopie verspricht Zukunft jenseits vom Heute. Ein besseres, schöneres, das befreite Leben folgt nach irdischer Entbehrung. Künstler sind anders, sie realisieren Jetzt, im Diesseits. Römer + Römer demonstieren persönlich die Vereini­gung Ost und West: die Künstlerin Nina aus Moskau, der Künstler Torsten aus Aachen lernten sich bei ihrem Professor Penck an der Düsseldorfer Akademie kennen und bilden fortan eine Lebens-Künstlergemeinschaft. Sie stupsen auch das Glück für Andere an; realisieren erotische Vereinigungen mit “Blind Date in Paradise”.
Das Projekt “Deutsch-Russische Knutsch-Performance” 2003 bildet einen ironischen Kommentar zur Verbrüderung zwischen dem russischen Präsidenten Putin und dem bundesdeutschen Bundespräsident Rau (Deutsch-Russische Kulturbegegnungen).
“Die Präsenz der Utopie” (Harald Szeemann) richtet sich gegen “ein lineares geschichtliches Denken” und jenseitiges Hoffen. Das war für den genialen Ausstellungsmacher der Anlass für seine umfassende Ausstellung “Der Hang zum Gesamtkunstwerk” (1983). Diese präsentierte die Vielfalt an künstlerischen Positionen, die das Ganze anstreben, die Kunst und Leben verbinden. Symbolisch demonstrierten Künstler, von den russischen Konstruktivisten bis zu Joseph Beuys den globalen Gedanken einer Welt. Die vielfältigen Performances von Römer + Römer sind der aktuelle Reflex auf diesen “Hang”; diese Aktionen im Lebens-Bereich finden ihre Entsprechung in der Malerei, in den unifizierenden Farbflächen.
Café Bistro Hauptstadt
Der Titel der Ausstellung verweist auf eine türkisch-deutsche Imbiss- Kneipe, gleichzeitig auf die multikulturelle und desolat-einsame Megacity Berlin. Spürbar wird eine “gewisse melancholische Stimmung, welche man in Berlin nicht selten beobachten kann” – so Römer + Römer in einer Email zu diesem Werk: “Die Stadt ist in grossen Teilen oft leer. Zwei Personen nachts (der Inhaber und ein Gast) in einem Imbiss, der sich ironischerweise mit dem Status Berlins als Haupt­stadt schmückt. Es findet keine Kommunikation statt. Das Lokal ist weder ein Bistro, noch ein Café, sowenig wie Berlin bislang eine wirkliche Hauptstadt ist … In Berlin gibt es eine grosse Kreativität für Namen von Gaststätten (Club der Visionäre, Neue Bohnen, Vor Wien, Cafe Jenseits…). Bei dem Blick auf den Imbiss hatten wir eine kleine Hommage an Edward Hopper im Kopf. Der Titel spielt auch an auf das Café Quatre Gats von Picasso, das Caffe Greco von Guttuso oder das Cafe Deutschland von Immendorff. Wobei es sich bei unserem Bild um einen simplen Imbiss, ein Café Bistro handelt. Nebenbei: Bistro ist ein russisches Wort und bedeutet `schnell´”.

Zitierte Literatur:
Walter Benjamin, Die Technik des Schriftstellers in dreizehn Thesen, in: Einbahnstrasse, Frankfurt a.M. 1969.
Michel Houellebecq, Die Möglichkeit einer Insel, Roman, Köln 2005.
Harald Szeemann, Der Hang zum Gesamtkunstwerk, Kunsthaus Zürich, Aarau 1983
Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, Das Problem der Stilentwicklung in der Neueren Kunst; München 1915. Telematik- siehe Jeannnot Simmen (Hsg.), Telematik.NetzModerneNavigatoren, Köln 2002
Telephus: vgl. Pauly-Wissowa: Real-Enzyclopädie der klassischen Altertumswissenschaft, 2. Reihe, 9. Halbband, Stuttgart 1934.
Katalog-Beitrag “Café Bistro Hauptstadt”, Galerie Michael Schultz, 2006
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