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  • Hans-Joachim Müller “Lauter Ansichten”, 2011

Lauter Ansichten

Könnte auch ein Fan-Foto sein, hastig mit der Handykamera aufgenommen. Eugene Hütz, der Frontmann der Folk-Punk-Band „Gogol Bordello“, im grellen Scheinwerferfeuer. Viel Zeit blieb offensichtlich nicht, um den Live-Mitschnitt zum Porträt zu adeln. Und viel kameratechnische Perfektion kann es auch nicht gewesen sein, die den Gitarristen und Sänger in den größtmöglichen Ausschnitt gezoomt hat. Nicht dass die Fotos, die den Bildern von Nina und Torsten Römer voraus gehen, beiläufig „geschossen“ worden wären. Und doch fehlt ihnen das Pathos ästhetischer Erzwingung. Was sie suchen, was sie einfangen, ist nicht das großartige Motiv, die spektakuläre Szene, nicht der eminente Auftritt, das Gesicht, das den Durchschnitt überstrahlte. Nie sieht die Welt aus, als sei sie extra für die Kamera aufgebaut worden. Und nie sieht man Bilder-Regisseuren bei der Inszenierung zu. Was die Künstler fotografieren, ist nicht mehr und nicht weniger als, was sie jeder für sich und was sie gemeinsam sehen.

Fotografieren ist dem Sehen verwandt. Und Malen? Malen ist nicht einfach Ausführung. Wenn es nur darum ginge, die fotografische Vorlage bildhaft umzusetzen, wäre kaum verständlich, warum Nina und Torsten Römer den umständlichen und mühsamen Weg der Malerei wählen. Die fototechnische Vergrößerung führte einfacher, schneller und nicht weniger ergiebig zum Ziel. Dass die Künstler auf der Malerei beharren, muss andere, tiefer reichende Gründe haben.

Das Werk wurzelt in der Malerei. Römer + Römer sind bekannt geworden mit ihren Motivreihen aus Städten und Ländern. Aber schon davor gab es malerische Kooperationen, Bilder, die aus abstrakt gestischen, ornamentalen und emblematischen Elementen komponiert waren. Seit sich die Wege an der Düsseldorfer Kunstakademie kreuzten, haben sich die Künstler immer in erster Linie als Maler verstanden. Und die Malerei blieb ihr eigentliches Ausdrucksmittel, auch wenn eine ganze Zeitlang Aktionen und Performances im Vordergrund standen, und später die Fotografie eine konstitutive Rolle übernehmen sollte. In keiner Werkphase hat das gemeinsam erarbeitete und zugleich gemeinsam erfahrene Bild seine Bestimmung als Hauptbühne verloren, auf der die fragilen dialogischen Prozesse spielen, in denen dieses Werk entsteht. Malend realisieren Nina und Torsten Römer ihre künstlerischen Visionen, malend begegnen sie der Welt, malend justieren sie Nähe und Abstand zu den Dingen, malend erleben sie sich im subtilen Austausch der Überzeugungen und Stimmungen, der Argumente und Anpassungen, der Vorlieben und Rücksichten. Und wenn das Frühwerk auch kaum einmal ausgestellt gewesen ist, so ist es doch nicht abgespalten, gar verworfen. Und mehr noch als bei der Nahsicht auf die aktuellen Bilder, über der sich Körper und Formen wieder in ungegenständliche Cluster aus Farbpunkten aufzulösen scheinen, spannt sich eine Brücke zu den frühen Bildern, wenn man an die unablässige Abstimmung zweier künstlerischer Handschriften denkt.

Malen ist Feintuning. Davon erzählen diese Bilder nicht weniger als vom bunten Alltag in bunter Welt. So wenig bedeutsam das jeweils gewählte Sujet scheint, so wenig erschöpfen sich die Bilder in den Szenen, auf die sie fokussieren. Wohl kann man sich mit den jungen Leuten im Zentrifugen-Karussell auf der Kirmes im südkoreanischen Busan zufrieden geben, kann allein am heiteren Schauspiel teilhaben. Inhaltlich hält das Bild ja nichts versteckt. Keine Botschaften, die man im landläufigen Vergnügen zu entdecken hätte. Zu rätseln, zu dechiffrieren gibt es offensichtlich nichts. Und doch ist damit das Bild noch nicht vollends erschlossen. Sind doch auch die Tage und Wochen, die die Maler vor dem Bild und mit dem Bild verbracht haben, eingeschrieben in die Webstruktur der Farben.

Tage und Wochen, in denen die Bedingungen verschieden, die Möglichkeiten nicht immer gleich verteilt waren, in denen es vielleicht hochgemut und dann wieder gedämpfter zuging, mal einverständig, mal kontrovers. Augenblicke, in denen das Hören und Sehen aufeinander ganz leicht und unversehens schwerer fiel. Eine Zeit erfüllt von produktiver Unruhe. Das alles ist Kernbestandteil dieser Bilder. Nichts läuft hier automatisch ab. Ganz anders als bei der Vergrößerung im Fotolabor, die man beeinflussen, korrigieren kann, die sich im Ganzen aber doch als chemischer und mechanischer Prozess darstellt. Malerei ist gerade das Gegenteil von Automatismus. Malerei bekennt sich zu den Unwägbarkeiten, und mehr noch setzt gemeinsame Malerei auf die Unwägbarkeiten. So gesehen handeln diese Bilder immer auch von den diffizilen malerischen Reaktionen auf Malerei, vom unauflösbaren Gespinst aus Impulsen und Reflexen, vom Abenteuer, in dem hier die Affekte und Überlegungen austariert werden.

Letztlich ist das auch der Grund, warum sich Nina und Torsten Römer zum alten Medium Malerei bekennen und sich nicht mit der schlichten Monumentalisierung der digitalen Bilddatenbestände begnügen. Denn entscheidend für die sinnliche Kraft dieser Bilder sind die komplizierten Wege, die zu ihnen führen. Die Reisen, die gesammelten Eindrücke, die unerwarteten Begegnungen und ungeplanten Erlebnisse, die fotografische Sammelarbeit ohne viel Absprachen und Festlegungen, die Sichtung und Gewichtung der vollen Speicherkarten, die Auswahl, der Zwang zur Begründung dabei, die wechselseitige Überzeugungsarbeit, die Entscheidung für ein Motiv, seine Bearbeitung am Computer, die grafischen und koloristischen Eingriffe an den Bilddaten, der Beginn endlich der malerischen Umsetzung, der mühselige Aufbau des Bildes aus ungezählten Farbbausteinen, die Konzentration auf die eigene Arbeit und die Neugier an der Arbeit des anderen, dieses Oszillieren zwischen Erfahrung und Selbsterfahrung – das alles sind Bildvoraussetzungen und Bildumstände, die sich eben nur im Medium Malerei leisten und aufbewahren lassen.

Malerei speichert Zeit, saugt sich voll mit Geschichte. Und wenn der Schnappschuss von der Kirmes im südkoreanischen Busan auch en passant entstanden und von einiger Harmlosigkeit erscheinen mag, so ist doch das Bild, zum dem der Schnappschuss erwachsen ist, gleichsam zerfurcht von den Spuren, die die skrupulöse Beschäftigung mit dem Motiv hinterlassen haben. Nicht dass das Bild erst als gemaltes bedeutsam geworden wäre. Aber seine Bedeutung liegt nicht zuletzt in der Art, wie es die intellektuellen, emotionalen und künstlerischen Entscheidungen, die an ihm mitgewirkt haben, verdichtet und die visuellen Codes zu schierem Sinnenstoff transformiert.

Es gibt für solche bildnerischen Summen das treffende Wort „Ansichten“. Ansichten sind ja nicht allein die Szenen und Prospekte, derer man ansichtig wird. Ansichten sind mehr noch die Perspektiven, die man zum Gesehenen einnimmt. Das kennzeichnet das Werk von Nina und Torsten Römer sehr genau. Auf den ersten Blick scheinen ihre Bilder nichts anderes als flache Weltausschnitte zu sein. Schüler, die in der Schuluniform in der Brandung stehen. Ein vergitterter „Bolzplatz“ mitten in der Stadt. Ein Maroni-Röster am Straßenrand. Punker, die an der Brunnentreppe eingeschlafen sind. Ansichten eben. Ansichten von da und dort. Der Maroni-Grill steht in Palermo. Den Bolzplatz haben sie für die Kids in Wladiwostok eingerichtet. Die Schuluniformträger vergnügen sich am Strand von Busan. Die Punks schlafen ihren Rausch in Berlin aus. Die verschiedenen Orte sind erkennbar. Dass ihre Erkennbarkeit Voraussetzung für die Bildorganisation wäre, könnte man nicht sagen. Auch nicht, dass die fotografischen Ansichten strengen Kompositionsprinzipien folgten, sich um unergründliche Raumtiefe mühten, um artifizielle Verteilung der Gegenstände, um harmonischen Ausgleich zwischen den Gruppen und den Einzelnen, die sich aus der Gruppe lösen. Man kann zwar von Bilderserie zu Bilderserie Veränderungen im fotografischen Setting ausmachen, mal zoomt die Kamera die Personen näher heran – mal hält sie sie sichtlich auf Distanz, im einen Fall stellt sie auf Panorama ein, im anderen ist sie am Ausschnitt interessiert -, aber das sind gestalterische Varianten, die am Ansichtscharakter der Motive kaum etwas ändern. Und nie scheint es beim Fotografieren um geflissentliche Anwendung tradierter Kunstregeln zu gehen.

Die Kamerastellung, mithin die Sehhaltung, ist den Dingen gegenüber, dringt nicht in sie ein, versucht nicht, hinter sie zu kommen. Es ist ein durch und durch zeitgenössischer Blick auf die Welt, die wie ein Film am Beobachter vorbeifließt. Das wird besonders deutlich in der neuen Serie „50 Ansichten des Berges Fuji – vom Zug aus betrachtet“, bei der die Übergänge vom einen Bild zum nächsten von der Art sind, wie man sich auf einem Touchscreen durch einen Bilderordner wischt.

Wobei die Frontalität in der Weltbegegnung und Weltbeobachtung „Haltung“ auch im übertragenen Sinne markiert. Römer + Römers Fotografie verzichtet sehr bewusst auf alle Metaphysik, zu der das Medium immer wieder verführt hat. Es ist den Künstlern jedenfalls nicht darum zu tun, den Dingen im Bild ihr Geheimnis zu entlocken oder sie mit Geheimnis aufzuladen. Und es geht auch nicht darum zu zeigen, wie viel Ästhetik in der ästhetisch unterversorgten Welt steckt. Das Medium hat sich in seiner Geschichte ja selten mit seinen angestammten mimetischen Möglichkeiten zufrieden gegeben. Es hat Archiv und Beweis führen wollen, hat sich zum Ankläger und Verteidiger gemacht und hat nicht ungern seine Überlegenheit über die abgebildete Welt zur Schau gestellt. Von solchen Ansprüchen sind diese Bilder und ihre fotografische Matrix völlig frei. Nina und Torsten Römer benutzen die Kamera mit einer Selbstverständlichkeit, die unmittelbar deutlich macht, dass es ihnen nicht um die Zurschaustellung von Profession und Professionalität zu tun sein kann.

Freilich sollte die Unkompliziertheit der fotografischen Haltung nicht mit dem touristischen Reflex verwechselt werden, der beim Auftauchen des Postkartenmotivs zum unwiderstehlichen Klick führt. Haltung ist es ja doch wohl, wenn die Künstler wochenlang durch Korea reisen und sich schon ein wenig frustriert damit abfinden, nichts wirklich gesehen zu haben, was Bild werden könnte, um dann ganz zum Schluss doch noch am Strand des Gelben Meeres auf die Schüler und Schülerinnen zu treffen und zuzuschauen, wie sie mitsamt ihren Uniformen ins Wasser steigen. Man übersieht das leicht in diesem Werk, wie bewusst und sorgfältig die Gegenstände auch gegen die Erwartung gewählt sind. So sind es keine Reisereportagen, und nie sind die Bilder dazu angetan, die Neugier auf das Ferne, Fremde, Andere gänzlich zu befriedigen. Immer herrscht Alltag auf den Bildern, nie er zählen sie vom Außergewöhnlichen, Ungesehenen, vom Überwältigenden oder Erhabenen. Und wenn der Fuji in den Blick gerät, dann wird er nicht als Wahrzeichen, nicht als landschaftliche Nobelmarke inszeniert, sondern vom Zug aus, wo er im Fenster auftaucht und wieder verschwindet. Und dass der famose Schneeberg im Bild dann in flirrende Pixelbestandteile aufgelöst erscheint, Scheme nur noch im Gefüge der Farbpunkte, das zeigt vollends, wie seine Berühmtheit vom Malprozess geschluckt wird.

Im selben Masse, in dem die Bilder Ansichten von etwas sind, sind sie auch Ansichten zu etwas. Es ist nichts weniger als Ansichtssache, dass die Maler nicht auf Naturwunder aus sind, nicht auf grandiose Landschaften, herausragende Bauwerke, beispielhafte Menschen, spektakuläre Handlungen, nicht auf die Glitzerwelt der Prominenz. Und es hat mit „Haltung“ zu tun, dass die Künstler nie anders als bei behutsamer Annäherung und staunender Distanz zu beobachten sind. Nach Schlagzeilen, nach grossen, beispielgebenden Handlungen, nach bedeutenden Persönlichkeiten sucht man in diesem Werk vergeblich. Die Figuren bilden zusammen mit Straßen, Plätzen und kommunen Fassaden eine unangestrengt urbane Folklore. Es ist das Leben, wie es lebt, für das sich Nina und Torsten Römer interessieren. „Normale“ Leute, nicht die Helden, nicht die Anführer, die Stars. Jugendliche Passanten bei der Selbstaufführung auf der Stadtbühne. Händler, die ihre Karren mit Obst- und Gemüseschachteln über die Straße zerren. Spielende Palästinerkinder in der Altstadt von Jerusalem, während der israelische „Big Brother“ per Videokamera über sie wacht. Die Bilder wären verkannt, wenn man sich vor ihnen nur an die Malerei der Impressionisten erinnert fühlte und nicht die „Haltung“ sähe, die sie stützt und im Innersten bedingt. Die verschleierte Frau, die an der Metro-Station in Paris noch einen kurzen Prüfblick in ihr Portemonnaie wirft, ist nicht zufällig ins Sortiment gerutscht. Dass die beiden Künstler die Szene aufgenommen, ausgewählt, bearbeitet und dazu bestimmt haben, sich wochenlang mit ihr malerisch zu beschäftigen, ist nichts weniger als ein Statement politisch wacher Zeitgenossen, die in der Gegenwart leben, die teilnehmen, die sich reiben an ihr und sich stoßen und sich faszinieren lassen und die Malerei für sich erkoren haben, weil von Farbpunkt zu Farbpunkt genügend Raum bleibt, um den wunderlichen und absonderlichen, den verlockenden und irritierenden Alltag zu bedenken.

Von daher erschließen sich auch die ausgedehnten Reiseunternehmungen, die beiden Künstler alljährlich von einem Kontinent zum anderen führen. Es ist ja vielleicht doch nicht so, wie auch schon einmal erwogen wurde, dass im Zeitalter der Globalisierung das Reisen zu den „Musts“ eines Künstlers gehöre, „genauso wie für den tüchtigen Geschäftsmann“ (Bettina Krogemann). Das Reisen hat das Kunst- und möglicherweise das Geschäftemachen seit Alters her alimentiert. Es hat kaum des Stich- und Schlagworts „Globalisierung“ bedurft, um die weltweite Künstlerschaft zu mobilisieren.
Auch Nina und Torsten Römer folgen nicht einfach einem vorgeblichen Trend. Reisen ist für sie viel eher Gelegenheit, da und dort auf Phänomene der Globalisierung zu treffen, die weltweiten Strategien der Anpassung und des leisen Widerstands zu beobachten, die schrillen Signale der Jugendkultur, die Sensationen des Regelverstoßes, die Freiräume, die sich Menschen inmitten des schwer lebbaren Lebens schaffen, die Architektur- und Landschaftskulissen, die sich auf ihre stille Art der globalisierten Hektik zu widersetzen scheinen.

Dazu gehört auch der aktionistische Teil des Werks, der hinter den grossen Bilderzyklen keineswegs zurückzustehen braucht. Von den ersten gemeinsamen Erfahrungen an der Düsseldorfer Akademie an gehörten Performances und thematische Ausstellungsprojekte zur offenen Praxis der beiden Künstler. Und wer wie Nina und Torsten Römer verborgen hinter dem Augengitter der Burka durch europäische Städte gezogen ist und den Selbstversuch als befremdliche Fremde fotografisch hat dokumentieren lassen, der malt dann auch die verschleierte Frau an der Metro-Station in Paris und ihren kurzen Prüfblick ins Portemonnaie nicht einfach aus illustrierender Lust. Dass diese Malerei von dem, was sie erzählt, nicht anders als in Ausschnitten erzählt, dass sie kein anderes Layout als das der gefügten und verfugten farbigen Flecken kennt, lässt die Punkte, lässt die Teile nicht gleich über das Ganze triumphieren und die Bilder von der Welt nicht über das Weltbild, das sie motiviert.

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